Angehörigenstudie: Die wichtigsten Resultate & Schlussfolgerungen
Betreuende Angehörige leben im ständigen Bereitschaftsdienst. Zuhause erfüllen sie einen anspruchsvollen, zeitintensiven Job. Trotz der hohen Belastung sind sie meist zufrieden und motiviert.
Aufnehmen, waschen, abführen, Verband wechseln, Urinbeutel wechseln, ankleiden, Frühstück vorbereiten… So beginnen die Ferientage für Alexandra. Sie ist die Ehefrau von Roland, der seit 12 Jahren aufgrund eines Arbeitsunfalles Tetraplegiker ist. Sie selbst ist zu 80% als technische Operationsfachfrau im Spital erwerbstätig und übernimmt die komplette Pflege ihres Mannes in den Ferien, und am Wochenende jeweils am Abend. An ihren Arbeitstagen wird die Pflege am Morgen und am Abend durch die Spitex erledigt. Neben den reinen Pflegeaufgaben kümmert sie sich täglich noch um den ganzen gemeinsamen Haushalt mit putzen, waschen, aufräumen, einkaufen und kochen für Zwei.
Die sogenannte „informelle Pflege“ durch Angehörige nimmt aufgrund der steigenden Lebenserwartung und dem Druck auf die Kosten im öffentlichen Bereich markant zu. Bisher ist in diesem Sektor noch vieles unbekannt: Wie viel leisten Angehörige konkret? Was bedeutet ihre Pflegearbeit für sie – zeitlich, finanziell, psychisch, für ihren Arbeitsplatz, für ihr soziales Leben?
Um für den politischen Entscheidungsprozess zuverlässige Zahlen zu haben, hat die SPF in einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie zum ersten Mal schweizweit die informelle Pflege bei Querschnittgelähmten untersucht. Die Studie dient dabei als Modell für die Pflege, die Angehörige von Menschen mit chronischen Krankheiten oder körperlichen Einschränkungen allgemein leisten. Insgesamt nahmen 717 Angehörige an der Studie teil, die 2016/17 durchgeführt wurde.
Wer sind die betreuenden Angehörigen eigentlich?
Die Mehrheit der betreuenden Angehörigen ist weiblich (72% der Studienteilnehmer) und lebt im selben Haushalt wie die betroffene Person (84%).
Die meisten sind mit der querschnittgelähmten Person verheiratet: 77% sind Ehepartnerinnen und -partner. 13% sind Eltern und 6% sind die Kinder der querschnittgelähmten Person. Durchschnittlich sind die betreuenden Angehörigen 57 Jahre alt.
Im Vergleich zu den Personen aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung , die angeben Familienangehörige zu unterstützen, handelt es sich in der vorliegenden Studie um deutlich ältere Personen und hauptsächlich um Frauen, die ihren Partner im Rollstuhl pflegen. Der Pflege- und Unterstützungsaufwand ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig ist die Erwerbsquote niedriger, das Einkommen geringer und die Lebensqualität reduzierter als in der Gesamtbevölkerung.
Hoher Unterstützungsbedarf im Alltag
Die Studie zeigt, dass Angehörige durchschnittlich 21 Stunden pro Woche für die Pflege und Unterstützung der querschnittgelähmten Person aufbringen.
Dabei gilt, je höher die Lähmungshöhe und je eingeschränkter die Funktionsfähigkeit der betroffenen Person, desto mehr Zeit bringen die Pflegenden auf. Der höchste zeitliche Aufwand liegt bei den nichtpflegerischen Unterstützungstätigkeiten im Haushalt sowie während der Mahlzeiten.
Häufigste Unterstützungsaufgaben und ihr durchschnittlicher Zeitaufwand pro Woche
Welchen Einfluss hat die Pflegetätigkeit auf die Erwerbsarbeit der Angehörigen?
Alexandra hat ihren Job gewechselt und ihr Arbeitspensum reduziert, nachdem sie gemerkt hat, dass sie ihre Pflegetätigkeit zuhause nicht mehr mit einem 100%-Pensum und vielen Pikett-Diensten vereinbaren kann. „Ich stand jedes Mal vor der Frage, wer den Roli ins Bett bringen kann, wenn ich Pikett hatte und am Abend schaffen gehen musste.“
In Vollzeit arbeiten tatsächlich eher wenige Personen, wenn sie gleichzeitig ein Familienmitglied pflegen und unterstützen. Etwa die Hälfte der Studienteilnehmer ist überhaupt erwerbstätig. Davon arbeiten die meisten in einem Teilzeitpensum.
Von allen Studienteilnehmern sind etwa 10% gänzlich im Haushalt beschäftigt, das heisst, sie sind weder in Rente noch erwerbstätig oder in Ausbildung. Die Verteilung differenziert sich jedoch, wenn man nach den Geschlechtern unterscheidet: So sind Männer eher erwerbstätig und arbeiten häufiger in Vollzeit als Frauen.
Beschäftigung der Studienteilnehmer in %, grün = Männer, grau = Frauen
Seit dem Beginn ihrer Pflegetätigkeit hat sich bei der Mehrheit der Angehörigen (60%) hinsichtlich ihrer Erwerbstätigkeit nichts geändert, 18% hingegen haben ihre Erwerbstätigkeit ganz aufgegeben. Die Mehrheit der Erwerbstätigen (60%) schätzt die zeitliche Belastung im Beruf als passend ein, 27% wünschen sich ein tieferes Pensum und 12% ein höheres Pensum.
Alexandra ist mit ihrem 80% Pensum zufrieden, sie kann die Pflegeaufgaben zuhause mithilfe der Spitex gut koordinieren. „Ohne Spitex könnte ich meinen Job jedoch nicht in dem Pensum bewältigen. Ist man erwerbstätig, kommt es wirklich darauf an, wieviel Unterstützung zuhause benötigt wird und wieviel Spitex man hat“.
Wie hoch ist die finanzielle Mehrbelastung betreuender Angehöriger?
Rund die Hälfte der Studienteilnehmer trägt bestimmte Kosten selber, die aufgrund der Pflegesituation entstehen.
Dies sind beispielsweise Ausgaben für Wohnungsanpassungen, Fahrtkosten, besondere Nahrungsmittel etc. Bei der Mehrheit (54%) dieser Personen sind es monatlich zwischen 201 und 1000 CHF, jeder fünfte zahlt bereits mehr als 1000 CHF pro Monat.
Diese Zahlen sind alarmierend und bedeuten eine teils hohe finanzielle Last, die Familien zu tragen haben. Alexandra und ihr Mann hatten „Glück im Unglück“: Sein Arbeitsunfall galt als fremdverschuldet. Aufgrund dessen kann er zusätzliche Leistungen über die Unfallversicherung beziehen. So sind auch bestimmte Mehrkosten gedeckt, die sie sonst aus eigener Tasche zahlen müssten. Dies sind beispielsweise die Mehrkosten für ein grösseres Auto oder für ein rollstuhlgerechtes Hotelzimmer.
Auch die Pflegeleistungen, die Alexandra zuhause für ihn erbringt, werden gezahlt. „Dies ist aber bei sehr vielen Familien nicht der Fall“, weiss Alexandra. „Ist man beispielsweise aufgrund einer Krankheit querschnittgelähmt, wird meist über jeden Rappen diskutiert. Oft frage ich mich, wie manche Familien diese Situation meistern. Als pflegende Person ist man schon genug unter Druck, man macht sich Sorgen und der Stresspegel ist oft erhöht. Kommt dann noch das finanzielle Problem hinzu, ist das für manche Familien wirklich extrem belastend“.
Wer nutzt Pflegedienste?
„Die Spitex ist an Werktagen morgens und abends bei uns. Insgesamt sind es 23-25 Stunden pro Woche“, erzählt Alexandra. „Ganz zu Beginn wollte ich den Roli jeden Abend selber ins Bett bringen, aber das hat er abgelehnt. Im Nachhinein bin ich froh. Denn so bin ich unabhängiger beim Schaffen, zum Beispiel wenn ich Spätdienst habe, oder wenn ich mit Kolleginnen im Ausgang bin. Mich hätte das sehr blockiert, wenn ich nicht mehr so spontan sein könnte.“
Unter den 717 Studienteilnehmern nehmen 33% einen professionellen Pflegedienst wie die Spitex in Anspruch. Für diese Personen übernimmt die Spitex pro Woche durchschnittlich 10 Stunden, bei 30 Stunden Unterstützungsleistung durch die Bezugsperson in der Familie.
Die Anzahl der Pflegestunden durch die Spitex variiert je nach Schweregrad der Läsion, Alter und Gesundheitszustand der rückenmarksverletzten Person, aber auch nach einigen Charakteristika der betreuenden angehörigen Person: Werden Betroffene von ihren (Ehe)Partnern unterstützt, sinkt der Anteil an externen Pflegeleistungen. Je höher ihr Erwerbspensum ist, desto mehr Stunden übernimmt der Pflegedienst. Ein Viertel der Studienteilnehmer wünscht sich mehr Leistungen durch die Spitex. Der Selbstbehalt an Kosten ist für viele Familien jedoch zu hoch.
Alexandra arbeitet am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) zusätzlich noch als Peer für Angehörige. In dieser Funktion berät sie Angehörige und gibt ihnen wertvolle Hinweise für den Alltag. Sie berichtet, dass es vor allem pflegende Frauen sind, die oft jegliche externe Unterstützung ablehnen.
„Frauen meinen oft, dass es ihre alleinige Aufgabe sei, ihren Ehemann zu pflegen. Sie schämen sich sogar, Hilfe anzunehmen. Dabei merken sie gar nicht, wie sie sich zunehmend überlasten und es immer mehr zu Krisen in der Familie kommt. In meiner Peer-Funktion versuche ich sie dann von einem externen Pflegedienst zu überzeugen. Denn wer pflegerisch tätig ist, braucht Entlastung und Zeit, um auch mal was für sich zu tun. Spazierengehen, Sport treiben, mit Kollegen abmachen – oft kommt das bei pflegenden Angehörigen zu kurz, obwohl es so wichtig für ihre Lebensqualität wäre.“
Wie wirkt sich die Pflegeaufgabe auf die Lebensqualität der Angehörigen aus?
Trotz der teilweise hohen Belastung geben fast alle Studienteilnehmer (93%) an, mit ihrer Rolle als betreuende Person immer oder meistens gut zurechtzukommen. Die Mehrheit erachtet die eigene Unterstützungsarbeit als lohnenswerte Aufgabe. Ihnen werde meist viel Wertschätzung entgegengebracht.
Auch Alexandra ist meistens zufrieden und empfindet ihre Aufgabe als wertvoll. „Wertschätzung bekomme ich sehr viel von ihm. Es gibt natürlich auch Krach, wie bei jedem Paar. Dann muss man eben mal wieder seinen Standpunkt klarmachen. Aber generell bin ich zufrieden.“ Sie erwähnt aber auch, dass sie besonders in den Ferien am Anschlag ist, weil sie dann die komplette Pflege alleine erledigen muss. „Wenn wir dann abends essen gehen wollen und vor dem Restaurant gibt es Treppen, dann ist mir das bereits zu viel. Dann mag ich nicht mehr. Zum Glück schaut dann immer der Roli, wie es in der Situation weitergeht.“
So wie Alexandra geht es auch der Mehrheit der Studienteilnehmer: über 50% geben an, immer wieder Perioden zu erleben, die ihnen zu anstrengend sind und sich negativ auf ihre mentale oder körperliche Gesundheit auswirken. Über die Hälfte (ca. 60%) fühlt sich in der eigenen Rolle als unterstützende Person gefangen (davon 46% manchmal und 14% immer oder meistens).
Was bedeuten die Resultate der Angehörigenstudie?
Betreuende Angehörige von Menschen mit Rückenmarksverletzungen zeigen sich als eine relativ zufriedene Gruppe, die sich selber gut arrangieren kann. Sie tritt selten öffentlich in Erscheinung oder macht auf sich aufmerksam. In Statistiken taucht diese Gruppe kaum auf. „Die meisten Leute sehen nur die pflegebedürftige Person, aber nicht, was alles dahinter steckt“, fasst Alexandra ihre Lage zusammen.
Hohe Kompetenz, wenig öffentliche Anerkennung
Betreuende Angehörige zeichnen sich durch eine ausserordentliche Kompetenz aus, was die Pflege der querschnittgelähmten Person anbelangt. Sie eignen sich innerhalb kurzer Zeit ein grosses Wissen zur Pflege an. Der Grad ihrer Professionalisierung ist sehr hoch und es ist nur schwer möglich, diesen zu ersetzen. Diese Leistungserbringung entlastet die Gesundheits- und Sozialversicherungen erheblich, wird aber öffentlich wenig anerkannt.
Direkte finanzielle Entschädigung
Aufgabe der Politik sollte es sein, die Anerkennung dieser Gruppe zu fördern. Die Studienverantwortlichen schlagen eine direkte finanzielle Entschädigung vor, da die Angehörigen so selber die für sie notwendigen Entlastungsmassnahmen treffen könnten. Dies könne beispielsweise über die Ausweitung des Assistenzbeitrages* auf Angehörige funktionieren. Zudem sollten Versicherte aller Versicherungsformen anspruchsberechtigt sein.
Eine Vereinfachung und Vereinheitlichung im Versicherungswesen sollte auch aus Alexandras Sicht eine zentrale Aufgabe der Politik sein: „Krankheiten und Unfälle sollten gleich behandelt werden. Und wer als Angehöriger pflegerisch tätig sein möchte, sollte auch entsprechend finanziell unterstützt werden. Die Familien tragen genügend Last und sollten sich nicht noch um das Finanzielle Sorgen machen.“
* Mit dem Assistenzbeitrag wird in erster Linie die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung von Personen gefördert, die eine Hilflosenentschädigung beziehen, auf regelmässige Hilfe angewiesen sind, aber zuhause leben möchten. Der Beitrag ermöglicht ihnen, eine Person einzustellen, welche die erforderlichen Hilfeleistungen zuhause erbringt.
Unterstützungsarbeit sichtbar machen
Die Studienverantwortlichen empfehlen zudem, dass sich betreuende Angehörige über ein Zertifizierungsprogramm mit ihren Tätigkeiten und Fähigkeiten registrieren. So könne ihre Arbeit sichtbar gemacht und ihre Stellung gegenüber bezahlten Anbietern verbessert werden. Die Qualität der häuslichen Pflegeunterstützung liesse sich so nachhaltig sicherstellen.