Skip to main content
SwiSCI
Swiss Spinal Cord Injury Cohort Study
Schweizer Kohortenstudie für Menschen mit Rückenmarksverletzungen
„Angehörige sollen ihr eigenes Leben führen können!“

„Angehörige sollen ihr eigenes Leben führen können!“

„Angehörige sollen ihr eigenes Leben führen können!“

„Angehörige sollen ihr eigenes Leben führen können!“

Interview mit Nadja Münzel, ehemalige Geschäftsführerin von ParaHelp, über die Herausforderungen pflegender Angehöriger.

ParaHelp sorgt schweizweit für eine ambulante pflegerische Beratung von Menschen mit Querschnittlähmung und ihren Angehörigen.

Frau Münzel, die Mitarbeitenden von ParaHelp haben viel Kontakt zu querschnittgelähmten Menschen, aber auch mit ihren Angehörigen. Wo liegen die Stärken der Angehörigen, die oft einen Grossteil der Unterstützungs- und Pflegeaufgaben zuhause übernehmen?

[widgetkit id="53" name="Personen / Nadja Münzel (DE)"]

Aus meiner Sicht sind das vor allem ihre Verfügbarkeit und Qualität. Insbesondere Ehepartner sind meist rund um die Uhr verfügbar, und das kann kein externer Dienst erbringen. Mal möchte man eher aufstehen, mal später ins Bett – auf all das können sich Angehörige einstellen. Sie wissen ausserdem genau, wie der Partner tickt, was er wann braucht, in welcher Position ihm am wohlsten ist – auf solche Bedürfnisse können externe Pflegende nicht in dem Masse eingehen, wie die Angehörigen. Sie sind Experten und ihre Qualität kann meist kein Pflegedienst ersetzen.

Aber das Ganze hat auch seine Schattenseiten, denn gerade ältere Personen, die seit 40 Jahren ein eingespieltes Team in ihrer Pflegesituation sind, können sich dann kaum noch auf externe Pflegepersonen einlassen. Sei es, dass die betreuenden Angehörigen selber krank sind, oder sei es, dass sie die Pflegearbeit zuhause nicht mehr bewältigen können – in solchen Fällen ist es teilweise sehr schwierig, externe Personen einzubringen. Eine Änderung ihrer Routinen bringt oftmals grosse Reibung mit sich.

Wie und wo lerne ich als Angehöriger überhaupt, selber zu pflegen? An wen wende ich mich bei Fragen?

Das Wichtigste lernen die Angehörigen bereits während der Erstrehabilitation. Das SPZ bietet zudem die Möglichkeit, vor dem Austritt zusammen mit der querschnittgelähmten Person für ein paar Tage in einer Übungswohnung zu wohnen. Hier werden sie bei Unsicherheiten professionell betreut und es klären sich dann bereits viele Fragen. So lassen sich die schwierigsten „Überraschungen“ zuhause schon mal reduzieren. Darüber hinaus stehen wir von der ParaHelp jederzeit mit unserem Angebot zur Verfügung, zu den Familien nach Hause zu kommen. Und ein grosser Teil ist natürlich „learning by doing“.

Heutzutage werden Angehörige in der Erstrehabilitation ganz anders angeleitet als früher. Angehörige sollen ihren Beruf behalten können und ihr eigenes Leben führen können, anstatt sich ausschliesslich auf die Versorgung der betroffenen Person einzulassen. Deshalb wird bei Bedarf im Anschluss an die Erstrehabilitation ein professioneller Pflegedienst für zuhause organisiert. Der Hauptteil der Pflege sollte demnach wirklich durch Fachkräfte erledigt werden. Der Partner übernimmt Handreichungen oder auch die Pflege am Wochenende oder in den Ferien. So sind beide Partner daran gewöhnt, dass externe Pflegefachkräfte im Haus sind und dass die Angehörigen nicht alle Aufgaben alleine bewältigen.

In welchen Situationen fühlen sich Angehörige überfordert? Was empfehlen Sie in solchen Situationen?

Das ist zunächst die Situation direkt nach dem Austritt aus der Erstrehabilitation. Die betreuenden Personen müssen erst einmal in ihre Rolle hineinwachsen. Das braucht eine gewisse Zeit, auch wenn sie im Spital darauf vorbereitet werden.

Schwierig wird es auch bei akuten oder chronischen Veränderungen der querschnittgelähmten Person. Zum Beispiel bei häufigen Infekten oder bei Schulterbeschwerden, die schleichend immer schlimmer werden. Wenn ein Paraplegiker nach vielen Jahren aufgrund seiner Schulterschmerzen plötzlich keinen Transfer mehr selber machen kann, ist das für die Familie ein sehr grosses Problem. Die betroffene Person muss dann ein Stück ihrer Autonomie aufgeben und die Angehörigen müssen viel mehr Hilfestellungen leisten, was sie schnell überfordern kann.

Auch die psychischen Probleme der Querschnittgelähmten können die betreuenden Angehörigen stark belasten. Sie fühlen sich häufig hilflos und leiden selber darunter.
Darüber hinaus können einschneidende Ereignisse, wie ein Todesfall, eine schwere Krankheit oder ein Trauma in der Familie zu einer Überforderung führen. Wenn es betreuenden Familienmitgliedern schlecht geht, dann sind sie mit ihrer Pflegearbeit ganz schnell am Anschlag.

Wir von ParaHelp versuchen von Anfang an, auf solche Situationen hinzuweisen und Lösungen zu entwickeln, also einen Plan B zu entwerfen. Allein die Frage, was passiert, wenn ich als betreuende Person selber mal ins Spital muss, sollte unbedingt geklärt sein, damit es nicht zu einem Chaos kommt, wenn dieser Fall tatsächlich eintritt.

Wie bleibe ich als betreuender Angehöriger selber gesund und vermeide Überlastungen?

Betroffene und Angehörige sollten von Anfang an lernen, sich auf verschiedene Pflegende einzulassen. Sie sollten sich darauf einstellen, dass der betreuende Partner selber erwerbstätig sein kann, frei hat und Auszeiten nehmen darf. Entlastungsangebote sollten genutzt werden. Weiterhin befürworte ich eine klare Trennung zwischen Pflege und Eheleben, so dass noch genügend Zeit und Raum füreinander neben der Pflege bleibt.

Schliesslich hilft auch der Austausch mit anderen Angehörigen in der gleichen Situation. Das SPZ bietet beispielsweise die Möglichkeit, sich mit Angehörigen-Peers auszutauschen. So lassen sich wertvolle Tipps für das Alltagsleben gewinnen und weitergeben. Eine Entlastungsmöglichkeit bietet auch die Tetrawoche der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung: Querschnittgelähmte verbringen unter professioneller Versorgung eine tolle Ferienwoche und ihre Angehörigen haben Zeit für sich.

Wie können betreuende Angehörige besser unterstützt werden?

In den letzten Jahren hat sich bereits Einiges getan, um diese Gruppe von Personen besser zu unterstützen. Aufgrund einer Vorgabe des Bundes gibt es mittlerweile viele regionale Anlaufstellen und Informationsportale. Für Angehörige von Menschen mit Querschnittlähmung stellen sich jedoch vielfach sehr spezifische Fragen und Probleme. Diese können von den bestehenden Anlaufstellen oft nicht beantwortet werden. Deshalb wäre es wichtig, innerhalb der Paraplegiker-Gruppe gewisse offene Angebote zu schaffen, wie beispielsweise eine 24h-Helpline für Betroffene und Angehörige.

Eine weitere Erleichterung wäre es zudem, wenn die Koordination der Versorgung nicht mehr nur an den Angehörigen hängen bleibt. In dem Pilotversuch „Guided Care“ testen wir momentan, inwiefern eine fallverantwortliche Person administrative und koordinierende Aufgaben abnehmen kann. Dazu gehören beispielsweise das Planen von Arztterminen, Therapien und Pflege, die Verwaltung von Dokumenten, Absprachen mit Leistungserbringern oder der Versand von Behandlungsberichten. Gerade Betroffene mit Mehrfachbelastungen oder betagte Personen verlieren hier oft den Überblick und könnten mit einer solchen Funktion entlastet werden.

Herzlichen Dank für dieses Interview!